Liebe Freunde der Norddörfer Kirchengemeinde!
„Ihr Christen seid ein komisches Völkchen. Immer liegt der Fokus auf dem Leid, auf der Niederlage. Wenn Ihr etwas gut könnt, dann das Jammertal in den blühendsten Farben auszumalen. Für die Sieger habt Ihr selten ein gutes Wort. Und Erfolge sind Euch generell suspekt. Als wäre es unrecht und Gott nicht angenehm, dass ein Mensch erfolgreich ist!“
Diese Worte stammen von meinem alten Freund. Er provoziert gerne. Als wir zur Schule gingen, hatte er Gott lieb und wollte Priester werden. Das ist Jahrzehnte her. Inzwischen hatte er sich den Künstlernamen „Dion“ zugelegt – frei nach dem griechischen Dionysos, dem Gott des Weins und der Ausgelassenheit. Gottlieb ist erfolgreicher Event-Manager und Agnostiker. Er genießt das Leben und ignoriert gerne die Stimme, die ihn zweifeln lässt. „Rainer, Du sagst nichts. Also habe ich Recht. Wie immer. Oder fällt Dir nur kein passendes Zitat aus der Bibel ein?“
„Ich könnte jetzt kontern“, antworte ich, „mit einem meiner Lieblingszitate aus dem Buch des Predigers: ,Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn ein jeder freut sich. Und so schafft er sich Glück, während er noch lebt. Wobei zugleich, immer wenn ein Mensch isst und trinkt und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennenlernt, dies ein Geschenk Gottes ist.’ (Prediger, Kapitel 3)
Gottlieb lächelt und sagt: „Das könnte ich glatt in die Werbebroschüre meiner Agentur übernehmen – essen, trinken, Reichtum und Glück von Gottes Gnaden! Mehr geht nicht. Da braucht sich keiner auf der Gewinnerseite des Lebens mehr zu schämen!“
„Tatsächlich“, erwidere ich, „Reichtum oder Armut, Siegen oder Verlieren entscheiden nicht darüber, ob Du vor Gott Scham empfinden musst. Siege und Niederlagen sind ja in den selteneren Fällen materieller Natur. Die Geschichte der Bibel und insbesondere die Geschichte Jesu erzählt viel von Siegen und Niederlagen des Menschen. Von seinen Abgründen und Tiefen – ebenso wie von Glück und Höhenflügen.“
Gottlieb unterbricht mich: „Jaja. Das weiß ich. Predige nicht, sondern komm’ zum Punkt.“ Ich fahre fort: „Nach meinem Verständnis hat Gott uns nicht geschaffen, damit wir verlieren sollen. Wenn Siegen bedeutet: Ein Vorhaben erfolgreich zu Ende zu bringen, dann sollen wir uns selbstverständlich anstrengen zu siegen und nicht zu verlieren. Und ich gebe Dir Recht: Als Kirche und als Christen vermitteln wir oft den Eindruck, dass wir den Siegern nichts zu sagen haben – und wenn, dann nur Kritisches. Selten aber eine Anerkennung. Das gilt auch innerhalb der Kirche: Wer Erfolg hat, ist suspekt und wird eher misstrauisch beäugt.“
Gottlieb hakt da ein: „So wie ich sage: Die Christen sind scheinheilig! Und neidisch obendrein.“ „Nein,“ erwidere ich, „das denke ich nicht. In unserer Tradition gibt es – wie in fast allen Religionen – ein ganz wichtiges Essential: ein unverzichtbares Kennzeichen des Glaubens. Wer sagt, er glaubt an Gott, der achtet darauf, dass er den unterstützt, der auf der Schattenseite des Lebens steht. Finanziell und ebenso mit Rat, Trost und Zeit. Für das eigene Glück gibt es nur eine Regel: Nimm es nicht als selbstverständlich, sondern sei dankbar und genieße es. Das ist ein guter Schatz für die Zeiten, in denen Zumutungen auf Dich warten. Vielleicht betonen wir zu sehr den ersten Teil und gönnen zu wenig den zweiten Teil.“ Gottlieb ist noch nicht zufrieden: „Na, das hört sich zu glatt an. Wie hältst Du es denn in Deinem Leben mit Siegen und Verlieren?“
Ich schweige lange und sage dann: „Wenn verlieren bedeutet, dass das Leben nicht nach meinen Plänen verlaufen ist, dann waren da einige Niederlagen. Zumutungen. Abschiede. Trauer. Eigene Fehlentscheidungen. Ich kann auch nicht sagen, dass ich aus allen Niederlagen gestärkt hervorgegangen bin. Aus manchen ja. Andere waren einfach nur bitter und mussten verarbeitet werden. Siege gab es durchaus, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt haben. Zuspruch für Gelungenes, der befl ügelt hat. All das finde ich in meinem Glauben wieder. Gerade in dieser Zeit vor und nach Ostern. Auch das Schicksal Jesu kann man deuten, als eine Geschichte von Sieg, Niederlage und Sieg: Von erfolgreicher Verkündigung, Passion und Tod am Kreuz, Auferstehung und Inthronisation im Himmel.“
Gottlieb sieht mich fragend an: „Was bedeutet das konkret?“ Ich suche nach Worten: „Ganz einfach gesagt: Für mich ist wichtig, dass ich Gott spüre in den Niederlagen ebenso wie bei den Erfolgen. Er ist da. Es gibt kein Leben, das nur Erfolge kennt. Und auch keins, das nur Niederlagen bereithält. Beides ist da. Manchmal im gleichen Augenblick. Wichtig ist mir, dass Jesus uns den Weg zum Leben gezeigt hat: Er hat uns gezeigt – um es in Fußballersprache auszudrücken – `Es geht weiter, immer weiter’.
Weder in der Niederlage noch im größten Erfolg bleiben wir stehen. In der Niederlage heißt es: Nicht liegen bleiben, sondern aufstehen. Im Sieg: genießen und den nächsten Schritt gehen. Am Ende hoffe ich, dass auch der Tod keine Niederlage ist. Sondern dass ich einst friedlich, ja selig gehen kann. Hin auf ein großes Licht – und mit einem dankbaren Lächeln. Weil ich weiß, dass Jesus voran gegangen ist und uns Menschen zu ihm ziehen will.“ Gottlieb geht neben mir. Und blickt mir ins Gesicht, ein leichtes Lächeln und Nicken als wolle er sagen: „Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.“
Uns allen die nötige Besonnenheit
und Zuversicht in stürmischen Zeiten!
Das wünscht sich
Ihr
Pastor Rainer Chinnow