Liebe Freunde der Kirchengemeinde Norddörfer!

AUFBRUCH & LOSLASSEN
STATT STEHENBLEIBEN & FESTHALTEN

„Was willst Du draußen? Da ist es grau, nass und ungemütlich!“ Julia sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen in unserem Wohnzimmer, einen Becher Tee in der einen, einen Friesenkeks in der anderen Hand. Ihr Blick geht zum Fenster, auf das sich ein Schleier aus Regentropfen gelegt hat.

„Du meinst“, sage ich, „wenn ich für mich bestimme, dass jetzt Sommer ist, fühlt sich mein T-Shirt trocken an und ich friere nicht mehr?“ Stefan lacht: „Einen Versuch wäre es wert… Aber im Ernst:
Es ist schön, dass Du Dich darauf eingelassen hast, mit mir in Sommerkleidung zum Strand zu gehen anstatt zu jammern und die nächsten Stunden missgelaunt vor dem Fernseher zu verdaddeln. Wir werden uns auch noch morgen an diesen Tag erinnern, meine Familie nicht.“

Gottlieb, mein alter Freund aus Schultagen, entgegnet: „Da hast Du Recht, Julia: Wer sich vor die Tür wagt, der kann nass werden. Das ist auf Sylt wie im richtigen Leben. Wer sich aus der Komfortzone bewegt, der hat aber auch die Chance, noch einmal ganz neue Seiten der Welt und womöglich an sich selber kennenzulernen!“

Gottlieb ist Philosoph, war erfolgreicher Unternehmer und hat sich im biblischen Alter von 60 Jahren entschlossen, junge Startup-Unternehmen zu beraten. „Regen kenne ich schon! Habe ich unter ,schlechte Erfahrung’ abgelegt, die es folglich zu vermeiden gilt“, entgegnet Julia mit einem Grinsen.

Julia könnte Gottliebs Tochter sein. Julia ist nach dem Studium auf die Insel zurückgekehrt. Sie hat sich eingerichtet, managt eine Apartmentvermietung, kümmert sich um drei Kinder. Alleinerziehend. Der Vater der Kinder hat sich vor zwei Jahren verabschiedet. Julia sagt, dass er das Gefühl hatte, keinen Platz mehr zu haben zwischen Kindern, Frau und Apartmentgästen. Statt zu reden, ist er an einem sonnigen Septemberabend nicht mehr nach Hause gekommen. Julia hat er eine WhatsApp-Nachricht geschickt: „Sorry, bleibe bei Melanie.“ Melanie war eine Kollegin, zehn Jahre jünger als Julia, ungebunden, kinderlos.

Gottlieb nickt erst, schüttelt dann den Kopf und sagt: „Nass werden ist vielleicht nicht die beglückendste Erfahrung. Aber wenn Du und ich jetzt vor die Tür gehen, Hand in Hand, wenn wir uns aufmachen zum Strand, das Rauschen des Meeres wie eine Melodie empfinden und gemeinsam im Takt der Wellen tanzen – dann stelle ich mir das wunderbar vor!“ Julia lächelt: „Gottlieb, Du bist ein Charmeur! Aber danke für das Angebot. Nein, mir ist gerade nicht nach Veränderung. Ich fühle mich wohl, so wie es ist. Gemütlich sitzen, Tee trinken, die Wärme des Augenblicks spüren!“

Gottlieb legt die Stirn in Falten. „Schade! Ich bin immer gern aufgebrochen zu neuen Ufern. Mir liegt die Ruhe nicht. Ist das Leben nicht permanente Veränderung? Lebt es sich nicht leichter, wenn wir in diese Veränderungen einstimmen? Ja, mehr noch: Wenn wir selbst unseren Teil dazu beitragen und jeden Tag, ja jede Stunde wie jetzt nach Chancen suchen, aufzubrechen? Nach Möglichkeiten suchen, alles, was uns im Leben belastet, loszulassen?“

„Verstehe“, erwidert Julia bitter. „Ja, das hat Kjell auch gemacht: Er hat kurzerhand eine Neudefinition seines Lebens vorgenommen: Frau und Kinder gleich Belastung, also loslassen. Jüngere Frau, die ihn anhimmelt: Aufbruch. Und weg war er. Ehrlich, Gottlieb, das ist mir zu billig. Aufbruch hört sich immer so positiv an. Und die, die Verantwortung wahrnehmen, das sind dann die Zurückgebliebenen, die sich nicht von alten Mustern trennen können.“

Gottliebs Falten werden größer: „Da hast Du Recht, Julia. Aufbruch und Loslassen sind wertende Modeworte geworden. Ich bin davon nicht frei. Ich konnte mich nie soweit auf eine Partnerin einlassen, dass ich eine Familie gründen wollte. Passte nicht in meinen Plan. Ich wollte das Leben kennenlernen, die Welt, am liebsten jeden Tag neue Menschen. Hören, wie sie leben, was sie umtreibt, woran sie glauben, worauf sie hoffen und das Wichtigste: Was sie wohl glücklich macht?“ Julia fragt: „Hast Du gefunden, was Du gesucht hast?“ Gottlieb wiegt den Kopf leicht hin und her: „Ich bin noch auf der Suche…!“

Julia sieht zu mir herüber. „Was ist eigentlich mit Dir, Rainer? Kannst Du gut loslassen? Aufbrechen? Oder stehst Du eher im Leben und hältst fest, was Du hast?“ In der letzten Viertelstunde hatte ich Zeit, über mein Leben nachzudenken. 18 Umzüge, gewollte und ungewollte. Und nun seit 25 Jahren im gleichen Haus auf der Insel. 33 Jahre mit der gleichen Frau verheiratet. Mein liebstes Hobby: Reisen. „Das Stehen liegt mir wie das Aufbrechen…“, antworte ich. „Jaja“, unterbricht mich Gottlieb: „Typisch Pastor: nur nicht festlegen, nach allen Seiten offen bleiben und keine Angriffsfläche bieten. Müsstest Du nicht eigentlich mir zustimmen: Nichts bleibt wie es ist, das Leben ist Veränderung. Von Gott so gewollt, ja explizit in der Bibel an zentralen Stellen sogar von ihm gefordert!“

„Da hast Du Recht, Gottlieb“, erwidere ich. „Klärt mich auf“, wirft Julia ein, „steht in der Bibel: Du sollst bei Regen vor die Tür gehen anstatt gemütlich Tee zu trinken?“ „Nicht direkt“, sage ich, „Dort steht, dass Abraham sich aufmacht in ein Land, das Gott ihm zeigen wird. Abraham folgt diesem Ruf, obwohl er sehr zufrieden zuhause war und alles besaß, was er zum Leben brauchte. Und Gottlieb meint, dass Jesus die ersten Jünger am Strand aufgefordert hat, ihre Arbeit aufzugeben, ihre Familie zu verlassen und stattdessen ihm nachzufolgen. Fortan sollten sie nicht mehr Meerestiere fangen, sondern Menschenfischer werden.“

„Interessant. Haben diese Geschichten eine Bedeutung für Dein Leben, Rainer?“ fragt Julia nach. „Es bedeutet für mich, mich immer wieder zu hinterfragen: Wo richte ich mich in einer Komfortzone ein, die mir nicht Sicherheit schenkt, sondern mich bequem werden lässt – meinen Kopf, meine Füße, meine Hände? Wo nehme ich Gewohnheiten an, die meiner Seele und meinem Körper schaden? Ganz konkret: Gebe ich Gott überhaupt eine Chance, mich zu rufen? Oder habe ich mich in meine Welt, meine Blase so weit zurückgezogen, dass er mich nicht mehr erreichen kann?“

Gottlieb mischt sich ein: „Kannst Du es etwas weniger allgemein ausdrücken? Was ist mit Deinem Leben?“ „Es gab immer wieder Situationen, in denen ich deutlich gehört habe: Ein Aufbruch ist dran. Es muss etwas Neues beginnen. Weitermachen wie bisher, geht nicht mehr. So bin ich vor 25 Jahren nach Sylt gekommen anstatt in die USA zu gehen. So sind wir mit der Norddörfer Kirchengemeinde in das Abenteuer ,finanzielle Unabhängigkeit statt Fusion’ aufgebrochen. Damit wir weiterhin nah bei den Menschen sein können und nicht untergehen in einer Großgemeinde, in der einer den anderen nicht mehr kennt. Aufbruch bedeutet für mich vor allem, auch auf meine Geburtsurkunde zu schauen…“ „Was meinst Du denn damit?“ fragt Julia.

„Naja“, sage ich mit einem Lächeln „Festhalten und Anhäufen ist ein Thema, wenn man jung ist. Wenn man älter wird, so höre ich den Ruf Gottes, dann geht es mehr ums Loslassen. Auf allen Ebenen. Dann geht es darum, Freiräume zu gewähren, denen, die jung sind. Ihnen Starthilfe zu geben. Räume, in denen sie sich ausprobieren können. Sie zu begleiten, aber nicht einzuengen. Wir sollten vor allem nicht die Felder besetzen, für die man zu alt ist, wenn man auf die 70 zugeht. Loslassen und Aufbrechen bedeutet für mich zu fragen: Wo werde ich jetzt gebraucht? Und die Antwort kann und sollte nicht die gleiche sein wie vor 25 Jahren.“

Gottlieb fragt noch einmal nach: „Das klingt unbestimmt – nach fantasievoller geistiger und geistlicher Arbeit. Kannst Du ein Beispiel nennen?“ Ich antworte: „Ich bin sehr dankbar, dass wir junge Menschen für unsere Gemeinde gewinnen konnten, die sich für die Arbeit mit Menschen begeistern. Sie haben viele neue Ideen. Wir brauchen diesen frischen Wind. Es ist jeden Tag eine Freude, ihnen zuzuhören und mitzuerleben, was sie bewegen. Deshalb ist es gut, auf die eigene Geburtsurkunde zu schauen, und ihnen den Weg frei zu machen, damit sich etwas entwickeln kann. Loslassen – das ist ein wichtiges Thema für mich in meinem Alter. Aufbrechen, andere stark zu machen und möglichst wenig im Weg zu stehen, das ist eine Aufgabe, die ich gerade für mich entdecke.“

Julia nickt: „Ja, das kann ich verstehen. Als ich angefangen habe, meine Apartmentvermietung aufzubauen, da hat mir ein älterer Mitarbeiter das Leben sehr schwer gemacht. Er hat dann Adressen von Gästen kopiert und ist damit zur Konkurrenz gegangen. Es war seine Art des ,Aufbruchs’: So tun als ob man losgeht, aber das Alte fest an sich binden.“ „Verstehe“, sage ich, „es gibt leider keine Garantie, dass ein Aufbruch gelingt. Jeder Aufbruch ist ein Abenteuer, ein Risiko. Ungewiss, ob sich erfüllt, dass das Neue besser wird als das Alte. Ob wir dem, was wir loslassen, nicht ganz schnell hinterhertrauern.“

„Aber Du willst jetzt nicht in den Ruhestand gehen?“ fragt Julia. „Nein“, antworte ich, „viel zu viele Ideen, die ich noch habe. Viel zu viele Aufbrüche, die ich noch gestalten möchte. Fürs Aufhören fühle ich mich viel zu jung. Es fällt mir nach wie vor schwer, lange zu sitzen. Da habe ich das Gefühl, dass ich äußerlich und innerlich unbeweglich werde.“

Gottlieb schaut lächelnd Julia an: „Also Rainer sagt: Wer sitzenbleibt, wird unbeweglich. Wie ist es? Ein Abenteuer am grauen Strand? Wir beide singen und tanzen? Und das Orchester des Meeres spielt für uns auf?“

Über welchen Aufbruch denken Sie gerade nach? Was ist für Sie gerade dran? Es freut sich über viele Gespräche und Begegnungen in diesem Winter,
grüßt Sie und Euch,


Ihr und Euer Pastor Rainer Chinnow
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