Liebe Freunde der Kirchengemeinde Norddörfer!
STEHEN BLEIBEN!
Katja ist auf die Insel gekommen. Vor vielen Jahren hatte ich sie in Hamburg kennengelernt. Sie hat mir bei einem Fundraisingprojekt in der damaligen Gemeinde geholfen – dem Bau eines Jugendhauses. Katja sorgte dafür, dass das Projekt in der Hamburger Öffentlichkeit bekannt wurde. Damals kümmerte sie sich um den Kontakt zu Zeitungen, lokalen Fernsehsendern und Radio. Heute ist sie Social Media Expertin. Sie ist aktiv auf Instagram, Twitter, Facebook, den üblichen Kanälen von WhatsApp bis Telegram und weiß, wie man bei Google ganz nach oben in die Suchmaschine kommt.
Mit Katjas aktuellem Partner Michael stehen wir am Meer. Michael ist Spediteur. Er hatte von seinem Vater drei alte LKWs und einen kleinen Schuldenberg übernommen und daraus in den letzten zwanzig Jahren ein florierendes Unternehmen gemacht. Michael schaut einen Moment auf den Horizont und dann schweift sein Blick weiter Richtung Kliff, unserem nächsten Ziel.
Katja nutzt die Pause, holt ihr Handy aus der Tasche und tippt ihre aktuelle Friedens-Aktivitäts-Idee ins Handy: Eine Menschenkette entlang der Strände der friesischen Inseln und der Atlantikküste von Norwegen bis nach Portugal in den Farben der Ukraine! Und dann weiter am Mittelmeer über den Bosporus bis zum Schwarzen Meer! Die Völker vereint gegen den paranoiden Satanswicht aus Moskau! Die Bilder untermalt mit Michael Jacksons Song „You Are Not Alone“ und John Lennons „Give Peace a Chance”. Sofort erhält sie ein paar Likes und wohlwollende Kommentare.
„Einfach mal nichts tun.
Raum und Zeit geben,
dass etwas
Neues in mir
wachsen kann.“
Michael schaut mich an und will weiter. Wir haben nur eine Stunde für den Spaziergang, dann ist er verabredet zu einem Videocall.
Michael und Katja haben sich auf dieses verlängerte Wochenende auf der Insel gefreut. Aber seit sie vorgestern angekommen sind, konnten wir kaum zwanzig Minuten miteinander reden. Irgendetwas war immer. Es blinkte auf dem Display, spielte eine Melodie oder leuchtete auf dem Armband. Gestern Abend dann musste Katja nach einem Blick aufs Handy plötzlich noch einmal vor die Tür. „Mir fehlen noch 2.500 Schritte!“ rief sie Michael und mir im Aufstehen zu und weg war sie.
Ich hole ein kleines Buch aus der Tasche. Katja ist noch mit dem Handy beschäftigt, schaut mich irritiert an. Michael setzt sich in den Sand. „Dann lies uns mal was vor. Mach aber nicht zu lang, bis zu meinem Call wollen wir noch die Runde übers Kliff zu Ende schaffen!“
Ich sage: „Wenn der Terminkalender voll ist und die Gedanken unermüdlich auf Hochtouren laufen. Wenn Gespräche zu Terminen verkümmern und beim Gang vor die Tür nurmehr die Bewegung gemessen wird, dann zwinge ich mich gelegentlich mit Worten des Syltliebhabers Ernst Penzoldt zur Besinnung:„Meine Uhr ist stehengeblieben. Es muss wohl Sand ins Werk gekommen sein. Aber ich brauche sie hier nicht. Ohne Uhr hat man immer Zeit. Denn die Zeit richtet sich nicht nach der Uhr. Manchmal eilt sie, manchmal verweilt sie. Sie ist aus ähnlichem Stoff gemacht wie der Wind. Was ist die Zeit? Ihre Dauer richtet sich nach unserer Liebe. Du fragst mich, was ich so den ganzen Tag tue. Nichts. Davon bin ich von früh bis spät vollauf in Anspruch genommen. Es bleibt mir kaum Zeit, etwas anderes zu tun. Ich lebe, das ist alles.“
Katja hört es sich an, ist aber sichtlich genervt. „Ich kann nicht nichts tun. Verschenkte Lebenszeit! Ich will mein Leben nicht verschenken, sondern etwas Nützliches schaffen!“ Michael pflichtet ihr bei. „Ist ja eine ganz nette Vorstellung: nichts tun! Und wer bezahlt das dann? Stell dir diese Welt der Nichtstuer vor: Wie würde das aussehen? Die Folge wäre: Keine Produktivität. Stillstand. Nein, Sand in der Uhr ist kein erstrebenswertes Ziel, sondern zuallererst ein Problem. Aber das weißt du natürlich selbst. Also, was willst du uns eigentlich sagen?“
Ich schaue beide an. „Mir hilft es, stehen zu bleiben. Was der Dichter formuliert hat, nennt sich heute ,Entzug von der Aufmerksamkeitsökonomie‘. Mir tut es gut, Pause zu machen. Nicht zu fragen: Wozu könnte das Meer dienen? Für was kann ich den Strand nutzen? Es tut mir gut, stehen zu bleiben und nicht nach dem Wert zu fragen, weder dem Wert der Zeit, in der ich nichts tue, noch nach dem Wert der Natur, von der ich gerade ein Teil bin. Diese Insel ist für mich Geschenk Gottes. Es sind zu viele, die alles, was auf Sylt ist und was diese Insel bedeutet, bewerten. Das tut der Insel nicht gut. Und es tut den Menschen nicht gut, die auf der Insel leben. Weder uns Syltern, noch euch Gästen. Deshalb: einfach mal nichts tun. Und das ganz aktiv. Einfach mal sich freimachen von allem, vom Klingeln, vom Blinken, vom Aufleuchten des Handys und Laptops, von Calls. Freimachen von allen Gedanken, die um das Thema kreisen: wie kann ich aus dem, was ich besitze und was in mir ist, noch mehr machen? Einfach nicht auf diesem Weg weitergehen, sondern stehen bleiben.
Der größte Feind
der Qualität ist
die Eile.
Henry Ford
Nichts tun. Raum und Zeit geben, dass etwas Neues in mir wachsen kann. Für mich ist es wie ein Gespräch mit Gott. Ein Gebet.“
Katja und Michael sehen mich an. Ein Handy brummt. Aber niemand geht ran. Wir bleiben am Flutsaum noch eine kurze Weile stehen. Hören den Wellen zu, blicken den Wolken nach. Dann ziehen wir weiter. Alles hat seine Stunde. Gehen hat seine Zeit und Stehen hat seine Zeit.
Für uns alle diese Momente des Innehaltens wünscht sich,
Pastor Rainer Chinnow