Liebe Freunde der Norddörfer Kirchengemeinde!

WAS IST GÜTE?

„Weltfremd! Du bist ein Träumer. Und das Gefährliche ist, dass Deine Phantastereien so schön klingen, dass Du andere damit ansteckst!“

Mein Freund aus Kindertagen, Michael, hatte mich angerufen. Fast 50 Jahre hatten wir nichts mehr voneinander gehört. Jetzt hatte er zufällig eine Predigt von mir auf „Youtube“ zum Thema Güte gefunden. Michael war nicht meiner Meinung. Sein Chef hatte ihm zum Jahreswechsel auf ziemlich schmutzige Weise gekündigt. Michael hatte sehr lange bei einem privaten Klinikbetreiber gearbeitet.

Die Corona-Krise hat der Betreiber genutzt, um sich zu sanieren. Auf Operationen wurde verzichtet, stattdessen hatte die Klinik plötzlich Hunderte neue Intensivbetten angemeldet und Beatmungsgeräte angeschafft. Chirurgen wurden da nicht mehr gebraucht. Die Klinik hat das Jahr 2020 mit einem fantastischen Gewinn abgeschlossen – und mit den niedrigsten Personalkosten seit Gründung des Konzerns.

Die Güte,
die in Dir ist,
hilft Dir, nicht das Böse
mit Bösem
zu vergelten.

Der Personalchef lud ihn nach 28 Jahren zu einem Kaffeeplausch ein. Als Michael das Zimmer betrat, saß der Personalchef dort mit einem Anwalt und legte ihm einen vorbereiteten Auflösungsvertrag vor. Michael war so verblüfft und konsterniert, dass er tatsächlich unterschrieben hat. Das war natürlich sein eigener Fehler. „Es ist jetzt nicht mehr rückgängig zu machen. Aber erzähl mir jetzt nichts von Güte. Erzähle mir lieber etwas vom Gericht! Steht das nicht auch in der Bibel? Dass Gott für Gerechtigkeit sorgt? Dass die Sünder bestraft werden? Und die Guten belohnt werden? Und steht da nicht auch, dass wir Menschen auf Erden Gott dabei nach Kräften unterstützen sollen, dass die Ungerechten nicht erst nach ihrem Tod, sondern schon in dieser Welt zur Verantwortung gezogen werden? Das wäre mal ein Thema für eine Predigt!“

Michael ist wütend. Auf die Klinik, auf den Personalchef, auf sich selbst.
Und auf mich. Er fühlt sich verraten von allen. Er hat Recht. Ich bin auch wütend. Zu viele ähnliche Geschichten, die ich im letzten Jahr gehört habe. Aus der Wirtschaft. Auch aus Diakonie und Kirche. Anstand und Menschlichkeit gehen verloren. Zu viel Leitungspersonal, das sich stolz auf die Schulter klopft, wenn es sich erfolgreich von Personal und Stellen getrennt und Einrichtungen geschlossen hat. Der Satz: „Die Güte aber des Herrn hat kein Ende“, (Klagelieder 3,22) klingt zynisch.

„Michael, Deine Wut finde ich vollkommen berechtigt.“
„Danke, hilft mir jetzt aber auch nicht weiter.“
„Was hilft Dir weiter?“
„Ach, ich weiß es auch nicht. Anfangs wollte ich Rache. Dann war ich verzweifelt. Traurig. Es ist eine Enttäuschung. 28 Jahre. Du denkst, Du bist dem Betrieb irgendwie wichtig. Aber da ist nichts. Fang noch einmal an: Erzähl mir zwei Sätze über Güte! Vielleicht lenkt es mein Denken in eine andere Richtung. Und ich finde wieder mehr Frieden. Derzeit ist in mir Streit und Krieg. Ein inneres Gemetzel, das mich krank macht. Es tut mir nicht gut. Und meine Frau hält es kaum noch mit mir aus.“

„Okay. Ich versuche es. Güte wird uns geschenkt. Ich glaube, dass Paulus es gut beschreibt: Sie wird uns vom Heiligen Geist gegeben und kann in unserem Leben wachsen. Sie kann aber auch abnehmen. Wenn sie uns geschenkt ist, ist die Güte ein Teil von uns, eine Wesenseigenschaft“.
„Ein bißchen praktischer hätte ich es schon gerne.“
„Güte kommt vom Herzen her. Es ist eine besondere Sichtweise auf den Mitmenschen: Trotz aller gegenteiligen menschlichen Erfahrung hält der Gütige daran fest, das Gute zu sehen. In jedem Menschen. Im Leben.“

„Schaffe ich nicht. Der Personalchef bleibt für mich ein skrupelloser Karrierist.“
„Du hast mich nach der Güte gefragt. Albert Schweitzer hat es in poetische Worte gefasst: ,Stetige Gütigkeit vermag viel. Wie die Sonne das Eis zum Schmelzen bringt, bringt sie Missverständnisse, Misstrauen und Feindseligkeit zum Schwinden. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, arbeitet an den Herzen und an dem Denken der Menschen’. Ich würde noch etwas weiter gehen: Güte heilt uns auch selbst. Du hast ganz sicher recht: Was geschehen ist, war definitiv Unrecht. Die Güte, die in Dir ist, hilft Dir, nicht das Böse mit Bösem zu vergelten. Sie hilft Dir, Dich nicht selbst zu verlieren an den Krieg und Streit, der in dir tobt.“
„So viel Güte bringe ich noch nicht auf. Aber ich verstehe, was du meinst“.
„Ich glaube ja an Engel.“

„Ja, Pastoren sollten das auch…“
„Engel nicht als geflügelte Boten, sondern als Botschafter zu sehen: ein Gedanke, ein Gespräch, eine zufällige Begegnung. Vielleicht begegnet Dir ein Engel, der Dich an die Quellen Deiner Güte zurückbringt. Es heißt, dass die Güte uns Gelassenheit schenkt. Dass sie uns achtsam leben lässt mit unseren Mitmenschen und mit uns selbst. Das ändert nicht die Vergangenheit. Aber es verändert die Gegenwart und womöglich die Zukunft.“

„Wenn Du kannst, dann schick mir diesen Engel der Güte…“
„Schicken kann ich ihn Dir nicht, aber beten, dass er sich zu Dir auf den Weg macht.“

Die liebe hat zwei Töchter
— die Güte
und die Geduld.
italienisches Sprichwort

Einen Frühling, in dem wir Güte erfahren, wünscht uns allen

Ihr

Pastor Rainer Chinnow

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