Liebe Freunde der Norddörfer Kirchengemeinde!

Zu Gast auf Erden

Es war weihnachtlich geschmückt in unserem Lieblingsrestaurant. Es roch nach frischen Tannen. Wichtel standen auf den Tischen. Kerzen brannten. Am Eingang wurden wir herzlich begrüßt, strahlende Augen, ein breites Lächeln. Endlich wieder zuhause!
Wir, das waren mein Kindergartenfreund Stefan und meine Kindergartenfreundin Isabelle. Wir hatten uns dank des Internets nach Jahrzehnten vor ein paar Jahren an einem Dezemberabend wiedergetroffen. Seither war das Adventstreffen zu einem festen Termin im Jahreskalender geworden.

Stefan hatte es als Arzt in die Schweiz verschlagen. Nahe Zürich lebte er mit seiner Frau in einem Haus mit Seeblick. Das jüngste Kind studierte noch in den USA, die drei anderen lebten glücklich in Vancouver, Hongkong und München. Isabelle war nach dem Psychologiestudium erfolgreiche Unternehmensberaterin geworden. Sie war gerade zurückgekehrt von einer Auszeit, die sie sich nach der Trennung von ihrem Partner genommen hatte.

„Man sollte den Gästen einen guten Trunk geben, damit sie fröhlich werden!“ sagte Stefan und bestellte für uns drei den Aperitif des Hauses.
„Wo hast du den Spruch denn her?“ fragte Isabelle.
„Von Martin Luther. Dachte, das passt, wenn wir in einer Runde mit einem evangelischen Pastor zusammensitzen!“ Stefan lächelte.

Als die Getränke an den Tisch kamen, ergriff Isabelle das Wort: „Auf einen fröhlichen Abend mit uns drei Erdengästen!“ Die Gläser klangen, wir tranken. Und Stefan sah Isabelle an: „Erdengäste, das klingt jetzt aber nicht besonders fröhlich. Höre ich da Wehmut raus?“
Isabelle schaute uns beide an und begann zu erzählen. „In den letzten anderthalb Jahren habe ich mich häufig als Gast gefühlt. Als Norbert mich verlassen hat, blieb ich im Haus wohnen. Er hat mir alles dagelassen. Nur einen Koffer gepackt und ist zu seiner Neuen gezogen. Als ich allein im Haus war, fühlte es sich fremd an. Unbewohnt. Und ist es nicht das, was das Wort Gast sagt?“

Gastfreundschaft
besteht aus
ein wenig Wärme,
ein wenig Nahrung
und großer Ruhe.
Ralph Waldo Emerson

„Ja“, sagte Stefan, „das ist das Wesen des Gastes: Dort, wo er verweilt, ist er nur vorübergehend. Ein Urlauber, ein Zugereister, ein Fremdling, der nicht dazugehört. So geht es mir und meiner Frau manches Mal noch immer in der Schweiz. Obwohl wir schon seit fast dreißig Jahren dort wohnen, Freundschaften geschlossen haben, ist da eine Distanz. Wir bleiben die Deutschen. Meine Frau denkt jetzt, da der Ruhestand immer näher rückt, ernsthaft darüber nach, zurück in den Norden zu gehen. Aber das ist ja noch etwas anderes, als sich im eigenen Haus fremd zu fühlen. Bist du das Gefühl inzwischen losgeworden?“

Isabelle antwortete: „Das Gefühl Gast, eigentlich heißt es richtig: Gästin zu sein, ist nicht einfach verschwunden.“
„Jetzt hör aber auf. Das Wort Gästin gibt es doch gar nicht! Da willst du uns beiden Männer doch nur gendermäßig provozieren“, unterbrach Stefan.
Isabelle lächelte. „Wenn es so wäre, hätte ich bei Dir schon mal Erfolg gehabt. Tatsächlich aber ist „Gästin“ über Jahrhunderte die weit verbreitete weibliche Bezeichnung
des Wortes Gast gewesen. Selbst im Grimmschen Wörterbuch von 1878 findet es sich wieder. Erst danach verschwindet es im Sprachgebrauch.“

„Okay, okay“, murmelte Stefan.
„Ich habe gegen das Gefühl, Gästin zu sein, angelebt“, begann Isabelle ihre Geschichte fortzusetzen, „Ich habe fast das ganze Haus renoviert, fast alle alten Möbel verkauft, verschenkt oder entsorgt. Neu eingerichtet. Es sieht jetzt sehr gut aus. Wie eine Bewerbung für schönes und modernes Wohnen. Dann habe ich mich eingeladen bei Freunden und Bekannten. Viele haben mir abgesagt wegen Corona. Doch einige Freunde haben mir sehr gut getan.“

Ich fragte: „Fühltest du dich dort aufgehoben oder hattest du auch dort das Gefühl, nur Gästin zu sein?“
Isabelle antwortete: „Ich will es mit Worten des Philosophen und Schriftstellers Ralph Waldo Emerson sagen: ,Gastfreundschaft besteht aus ein wenig Wärme, ein wenig Nahrung und großer Ruhe.‘ Das haben mir meine Freunde gegeben. Und sie haben sich Zeit genommen.“

„Hat es dich wieder zu dir selbst finden lassen? Oder hast du dich weiterhin wie eine Fremde gefühlt?“
Isabelle stockte. „Ich glaube, das sind für mich Alternativen, keine Fragen mehr. In den letzten Monaten konnte ich endlich reisen. Ich war in Kroatien und Italien. Vor drei Monaten dann bin ich eine Strecke des Jakobsweges gelaufen. Es hat mich tief berührt. Und mehr als je zuvor habe ich das Gefühl, eine Erdengästin zu sein! Und
ich bin damit einverstanden.“
Stefan schwieg. Isabelle schaute mich an.
„Kannst du mich verstehen, Rainer?“
„Vielleicht. Ja. Es trifft mein Gefühl, dass wir hier auf Erden nur zu Gast sind. Unsere eigentliche Heimat ist bei Gott. Wir sind seine Kinder. Er hat uns mit unserer Geburt hier auf Erden eine Zeitspanne Leben geschenkt. Wir Menschen sind Gäste. Keine Urlauber. Aber irgendwie bleiben wir gefühlt Fremdlinge, weil wir – mal mehr, mal weniger – wissen, dass wir diese Erde einst verlassen müssen. Dann kehren wir wieder zu Gott in die ewige Heimat zurück. So hat er es selbst in Jesus Christus auch getan: Er ist vom Himmel auf die Erde herabgekommen und zurück in den Himmel aufgestiegen. Jeder Abschied, der uns im Herzen berührt, ist für mich eine Erinnerung an dieses ,Wir sind zu Gast auf Erden!‘“

Isabelle nickte leicht. Das Essen wurde serviert. Getränke nachgefüllt. Stefan stand auf und nahm das Glas. „,Gastfreundschaft ist die Kunst, seine Besucher zum Bleiben zu veranlassen, ohne sie am Aufbruch zu hindern.‘ So lasst uns denn nach so viel Tiefsinn die Stunden als Gäste und Gästin miteinander genießen.“

Und so war es. Wir haben viel gelacht, geredet, hin und wieder sogar eine Träne vergossen.

Viele Momente, in denen Ihr Euch willkommen fühlt und andere willkommen heißt, wünscht Euch


Pastor Rainer Chinnow

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