Liebe Freunde der Kirchengemeinde Norddörfer!
GOTT UND DIE WELT
An diesem Abend hätte ich eigentlich allein sein wollen. Den Sonnenuntergang am Strand genießen. Es war einer dieser trügerischen Tage auf Sylt gewesen, an denen der Himmel noch tut, als sei Sommer, während der Wind längst wieder aus Nordwest kommt. Ich hatte die Kirche abgeschlossen – und war auf dem Rückweg ins Pastorat, als ich sie schon sah: Maike und Jan, auf der Bank vor der Kirche. Beide mit diesen Gesichtern, die sagen: „Wir wollen reden – und zwar: Jetzt!“
Ein spontanes Wiedersehen nach Jahren. Wir hatten zusammen studiert. Maike hatte Philosophie belegt, um nicht über Gott nachdenken zu müssen. Jan Wirtschaft, weil er es konnte. Und ich Theologie, weil ich dachte: Einer muss ja die Welt retten.
Sie hatten mir geschrieben. Lange Mail. Viel Zeit, viele Fragen. Über Gott, die Welt – und die Kirche. Denn sie hatten sich in ihrer Gemeinde südlich der Elbe engagiert. Kirchengemeinderat. Zusammenlegung mit vier Nachbargemeinden. Es war viel passiert. Jetzt waren sie hier. Und wollten reden.
„„Hast du kurz …?“ fragte Maike. Ich nickte: „Du meinst: Zeit für ein Gespräch über Gott und die Welt – und über Kirche und Sylt im Besonderen?“ „So ähnlich“, sagte sie.
Wir gingen zum Dorfteich. Die windgeschützte Bank nahe dem reetgedeckten Brunnen stand leer. Jan trug einen Designermantel, seine neuen Schuhe passten exakt dazu. Erfolgreich war er, lange. Nach dem Verkauf der Firma hatte er jetzt Zeit. Und einen Hund, der zu Hause schlief.
„Es ist schön in eurer Kirche“, sagte Jan. „Idyllisch. Hatten wir letztes Jahr auch noch. Ist jetzt vorbei. Wird verkauft.“„Was ist passiert?“ fragte ich. „Erst hieß es: kein Geld mehr“, sagte Jan. „Wir haben einen Förderverein gegründet. Die Leute wollten ihre Kirche behalten. Wir hatten Freude daran, Menschen zusammenzubringen. Es hat funktioniert. Dann hieß es: kein Personal mehr. Ihr müsst kooperieren. Wie – das war uns überlassen.“
Maike schaltete sich ein: „Die Pastorin bat uns um Hilfe. Und wir haben ja gesagt. Wegen dem, was uns immer getragen hat: die Idee von Kirche als Ort, an dem Menschen füreinander da sind. Wo erfahrbar ist, dass Gott lebt und liebt.“
„Dann ging es nur noch um Strukturen“, sagte Jan. „Zusammenlegung, Zentralisierung, Einsparung. Endlose Sitzungen. 40, 50 – ich habe aufgehört zu zählen. Aus lebendiger Kirche wurde eine Verwaltungsdebatte.“„Und jetzt?“ fragte ich. „Jetzt sind wir erschöpft“, sagte Maike. „Wir wollten aufbauen – und wurden ausgebremst. Wollten gestalten – und wurden übergangen. Das schmerzt.“ Ich sagte: „Das tut mir leid.“ „Wir sind nicht gekommen, um zu klagen“, sagte Jan. „Sondern um zu sehen: Geht es auch anders? Gibt es noch Orte, an denen Kirche lebt?“ Maike ergänzte: „Wir wollen ein Stück Hoffnung mitnehmen. Vielleicht auch: ein Stück Begeisterung.“ „Habt ihr eine Vision von Kirche?“ fragte Jan.
Ich nickte. „Ja, wir haben eine Vision – nicht als Illusion, sondern als klare Vorstellung. Sie trägt uns hier seit Jahren. Auch gegen den Trend.“
Ich holte tief Luft: „Unsere Vision von Kirche ist keine Idee auf dem Papier, sondern gelebte Praxis. Wir glauben an eine Kirche, die mitten im Leben steht – liebevoll, offen, zugewandt. Eine Kirche, die begleitet: in Freude und Leid, im Alltag und an Wendepunkten. Eine Kirche, die nicht auf Menschen wartet, sondern auf sie zugeht. Die zuhört, tröstet, Hoffnung teilt und Gott im Leben der Menschen sichtbar macht.
Unsere Kirche hier ist fest verankert im Leben der Insel. Sie ist da – für Einheimische und Gäste, Zweitwohnungsbesitzer und Urlauber, Glaubende und Zweifelnde. Sie ist ein Ort für Gemeinschaft, für Musik, Gebet und Gottesdienst. Nicht nur sonntags, sondern immer dann, wenn Menschen innehalten und neue Kraft suchen.
Wir glauben: Kirche wächst nicht, wenn sie sich zurückzieht, sondern wenn sie den Mut hat, sich zu zeigen. Wenn sie Freude ausstrahlt, das Evangelium klar bezeugt – und dabei nicht auf Perfektion setzt, sondern auf Echtheit. Wenn sie Fragen zulässt und trotzdem Orientierung bietet. Wenn sie klar sagt, woran sie glaubt – und einlädt, mitzudenken, mitzufeiern, mitzugehen.
Wir machen uns nichts vor: Auch wir spüren die Herausforderungen. Aber wir spüren auch die Kraft, die entsteht, wenn Menschen sich verbinden. Wenn sie Verantwortung übernehmen. Wenn sie entdecken, dass Glaube nicht rückwärtsgewandt ist, sondern ein Weg nach vorn.“
Maike sah mich an: „Klingt nach Aufbruch, nach Lust, Neues zu entdecken.“
Ich nickte. „Das ist es. Kein Rückzug, kein Lamentieren. Sondern anfangen. Neues entdecken. Spass haben. Freude spüren. Gemeinsam. Im Wind. Im Brot. In der Begegnung. Vielleicht fängt Kirche genau da an – auf einer Bank unter Bäumen, wenn drei Menschen spüren: Das hier ist mehr als ein Gespräch. Das ist der Anfang von etwas Gutem.“
Jan lächelte: „Weißt du, was erfolgreiche Unternehmen machen, wenn sie wachsen wollen? Sie bauen keine Zentralen – sie gründen Filialen. Sie bleiben nah bei den Menschen.“
Maike sagte: „Und Kirche?“
Ich sah auf das Kirchendach, das im Abendlicht rot schimmerte. Und antwortete: „Vielleicht ist genau das der Weg: Dicht dran bleiben. Vertrauen wagen. Nicht alles kontrollieren wollen – aber alles mit Gott teilen. Und dann sehen, wie lebendige Kirche wachsen kann.“
Lasst uns in diesem Sommer ganz viel Lebendigkeit und Freude in unserer Gemeinschaft spüren.

Ihr und Euer Pastor Rainer Chinnow