Liebe Freunde der Norddörfer Kirchengemeinde!

Viele waren schon da. An den Tischen wurde erzählt von Schmerzen und Krankheit, der bevorstehenden Operation und der ausstehenden Diagnose. Weiter drüben standen einige Männer im Anzug, eifrig damit beschäftigt ihre Erfolge mitzuteilen, ein gelungenes Geschäft, ein guter Deal in Fernost, ein gewinnbringendes Aktiengeschäft. In einer Ecke wurde eifrig debattiert über die Ungerechtigkeit der Welt und dass die Güter falsch verteilt seien, und es immer die gleichen Wenigen sind, die alles haben und den anderen nichts abgäben. Und wenn sie selbst das Sagen hätten, dann würde alles besser werden. An der Tür Getuschel und Gelächter, ob sie es denn noch nicht gehört hätten, das Neueste von der Insel, dass er sich getrennt hätte und sie fremd gegangen sei und er inzwischen völlig pleite, aber das hätte man ja voraussehen können – mit etwas Verstand…

Er betrat einfach den Raum, fast unbemerkt. Er war keine sonderlich imposante Gestalt, gerade einmal 1 Meter 80 groß. Kein Modellathlet, unauffälliges Outfit. Er stand jetzt mitten im Saal und ging auf den Tisch zu, an dem eben noch geklagt wurde. Gab respektvoll den Herren wie den eifrigen Debattierern die Hand, grüßte die Tuschelnden. Das Getuschel und Gemurmel, das Streiten und Hadern und selbst das hämische Gelächter ebbte ab. Es war eigenartig, als wäre in das Dunkel von Krankheiten und prahlerischer Leistungsschau, von Neid und übler Nachrede ein Licht gefallen, das ein Weiterreden unmöglich machte.
An den Tischen wurde über die nächsten Reisen gesprochen und was man noch alles erleben möchte. Die Männer im Anzug waren eifrig damit beschäftigt, ein wohltätiges Projekt zu planen, „nicht irgendwo, sondern hier auf der Insel“. In der Ecke wurde nicht mehr diskutiert, sondern zusammengetragen, was sich in den letzten Jahren zum Guten verändert hatte in ihrem Leben. Und an der Tür redete man nicht mehr über andere, sondern über sich selbst. Man lachte nicht mehr laut und hämisch, sondern lächelte. Am meisten über seine eigenen Missgeschicke.

Er stand am Fenster und ich ging auf ihn zu und fragte, wie er sich das erkläre, dass er diesen Raum betreten habe und plötzlich die ganze Atmosphäre freundlicher sei. Er tat erst überrascht. Und sagte, wenn das so sei, dann würde es ihn freuen. Denn das sei sein tiefstes Lebensgefühl: Freude. Eine tiefe innere Freude am Leben, die er jeden Tag verspüre. „Haben Sie denn gar keine traurigen Tage? Oder Tage, die einfach so dahinplätschern ohne dass man hinterher sagen kann, was eigentlich gewesen ist?“ fragte ich. „Nein, früher vielleicht einmal, aber schon lange nicht mehr.“ antwortete er. Spätestens aber seit er wisse, dass sein Leben nicht mehr lange währen würde, hätte er diese Freude in sich gespürt. Ich schaute ihn überrascht an.
„Ja, das klingt paradox. Aber wenn die Zeit knapp wird, gibt es dann etwas Sinnloseres, als dass man diese knappe Zeit damit vergeudet, zu klagen und zu prahlen, neidisch zu sein und schlecht über andere Leute zu reden? Ist es nicht viel angenehmer – entschuldigen Sie den Ausdruck – gesünder – sich am Leben zu freuen? Diesem Geschenk, einfach sein zu dürfen? Zu sehen, zu reden, zu hören, zu riechen – zu lieben? Diese Welt? Mit ihren kleinen und großen Wundern der Natur. Und, ja eben auch mit ihren Menschen, die allzu oft in ihrer kleinen Welt gefangen sind. Freude, das ist meine Erfahrung, pure Lebensfreude, weitet die Grenzen dieser Welt. Die Buddhisten sagen, dass Freude einhergeht mit Ausgeglichenheit und das eben dies der Zustand des Glücks ist. Die Bibel sagt, dass Gott seinem Wesen nach Liebe ist und dass die Freude mit der Liebe einher geht. In Gott fallen Liebe und Freude zusammen. Unsere irdische Freude ist daher letztlich „göttlichen Ursprungs“.

Für mich ist das Christentum eine Religion der Freude. Evangelium, frohe Botschaft. Meine Lebensfreude ist ein Geschenk Gottes, das mich beflügelt schon am Morgen, wenn ich den Tag beginne. Und wenn meine Freude die Menschen erreicht, dann macht es mich glücklich.“ Ich bedankte mich für das Gespräch und wollte ihm die Hand geben. „Ich bewundere ihre Kraft und Lebensfreude!“ Er schaute mich an und antwortete: „Lassen Sie es mich mit Romano Guardini sagen: Geborgenheit im Letzten gibt Gelassenheit – und hier würde ich sagen: Freude – im vorletzten Lebensmoment.“

Eine freudige Frühlingszeit wünscht Ihr

Ihr

Pastor Rainer Chinnow

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