Liebe Freunde der Kirchengemeinde Norddörfer!

HALTUNG ZEIGEN zeigen!

Normalerweise äußere ich mich nicht zu politischen Themen.
Ich bin Pastor. Meine Berufung ist das Predigen und das Schreiben von Andachten. In diesem Editorial ist es anders. Es ist persönlich.
Was geschieht in meinem Land? Was geschieht in unserem Land? Das berührt mich. Es berührt meinen Glauben. Es berührt die Werte, für die ich lebe und einstehe. Es gefährdet meine Freiheit. Dass ich dieses Editorial schreibe, hat auch mit zwei Menschen zu tun, die zu unserer Inselgemeinschaft auf Sylt gehören und erlebt haben, dass Freiheit, Demokratie und Mitmenschlichkeit ein Geschenk sind.
Ein zerbrechliches Geschenk, für das wir jeden Tag kämpfen sollten.
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Es hat mit Antje zu tun. Antje wurde geboren in dunkler Zeit in Kampen. Antje wurde geboren mit Handicaps, die ihr das Sprechen und Laufen von Geburt an schwer machten. Antje litt an Handicaps, die verfolgt wurden. Es gab viele auf der Insel, die bereit waren zu denunzieren. Es gab viele, die bereit waren, solche Kinder zu melden, abzuholen und in Anstalten zu bringen, in denen diese Kinder ermordet wurden. „Lewer duad as slaw“ war leider kein Sylter Leitspruch in jenen Jahren.
Deshalb geht Antje in diesen Tagen auf die Straße, um zu demonstrieren. Deshalb meldet Antje sich in diesen Tagen zu Wort. Deshalb dieses Editorial. Um daran zu erinnern, dass wir uns auf dünnem Eis befinden.

Der zweite Mensch, der mir sehr wichtig ist, und vor kurzem mit 93 Jahren das erste Mal an einer Demonstration teilnahm, ist Pastor Hartung (siehe dazu Seite 26) Er wurde auf der Insel in Keitum geboren. Er weigerte sich als Kind
die HJ-Uniform zu tragen. Er wurde dafür gehänselt, beschimpft und ausgegrenzt. Seine Familie musste die Insel verlassen, weil Pastor Hartungs Mutter denunziert wurde. Ihr wurde gedroht, dass sie ins KZ käme, wenn sie weiterhin den Hitlergruß verweigert. Es ist ein dünnes Eis, auf dem wir uns bewegen.

Der dritte Grund ist meine persönliche Geschichte: Ich bin aufgewachsen in einer Familie, in der es laut und streitbar am Tisch zuging.

Als Jugendlicher war ich Anhänger Bakunins, Anarchist: Ohne Herrschaft und Fremdbestimmung zu sein, erschien mir die einzige vorstellbare Form, wirklich frei zu leben. Mein Vater war Sozialdemokrat, meine Tante stramme CDU-Anhängerin, mein Onkel Unternehmer und FDPler. Mein Patenonkel war glühender Anhänger von Franz Josef Strauß. Es wurde immer wieder laut, wenn wir zusammen waren. Es wurde diskutiert, argumentiert, manchmal sachlich, oft emotional. Wir alle haben uns im Laufe der Jahre verändert, auch unsere politischen Meinungen. Was ich für mein Leben gelernt habe ist, dass es nicht die eine Wahrheit gibt. Was ich mitgenommen habe für mein Leben ist, dass ich niemals in einer Blase leben möchte, in der nur die eigenen Argumente fortwährend wiederholt werden und man sich gegenseitig permanent bestätigt in Rechthaberei.

Vielfalt bedeutet nicht nur eine bunte Gesellschaft. Vielfalt bedeutet vor allem zuzuhören, sich zu hinterfragen, die Wahrheit des und der anderen gerade dann anzuhören, wenn man einen konträren Standpunkt hat. Und Vielfalt bedeutet, einander die Chance zu geben, sich zu verändern.

Wir sind immer Familie geblieben. Wir haben uns verändert. Wir sind in den 80er Jahren gemeinsam zu Demonstrationen gegangen, als es Zeit dafür war. Das bedeutet für mich Freiheit im Denken und Reden. Demokratie. Es ist ein dünnes Eis.

Ein letzter Grund, warum ich dieses Editorial schreibe:
Mein Vater hat bis zu seinem Tod immer über die gleiche Frage nachgegrübelt: Wie konnte es geschehen, dass so viele die NSDAP nicht nur gewählt haben, sondern gern und mit Hingabe ihre Ideen umgesetzt haben? So viele in dem Land von Thomas Mann, Bertholt Brecht, Emil Nolde, Marlene Dietrich und Heinz Rühmann.
Deutschland war damals ein zivilisiertes, kulturell hochstehendes Land. Ein Grund für die düstere Zeit des Nationalsozialismus war mangelnder Respekt vor demokratisch gewählten Politikern. Denn die Weimarer Politiker waren alle „doof“, genauer gesagt: Sie wurden niedergeschrieben, niedergeschrien und schließlich nicht mehr ernst genommen. Wie ist es heute? Wie reden und schreiben wir heute über die Scholz, Lindners, Habecks, Baerbocks, Merz und Söders? Welche Wortwahl verwenden wir? Wie begegnen wir ihnen, wenn sie in unsere Region kommen? Wir haben sie gewählt. Wir, die Deutschen. Wie damals Kohl und Schröder und Fischer, über die damals wie heute gelästert wurde und wird.

Es sind und waren unsere frei und demokratisch gewählten Volksvertreter, die mit allen Fehlern und Pannen und Unzulänglichkeiten dieses Land gestaltet haben. Es sind die Volksvertreter, die uns in diesem Land die Freiheit bewahrt und ein gar nicht so schlechtes Leben über fast acht Jahrzehnte geschenkt haben. Es sind die Volksvertreter, die aus guten Gründen gewählt und wieder abgewählt wurden. Das ist Demokratie.

Niemand muss diese Politiker kritiklos gut finden, aber wir sollten Respekt vor ihnen zeigen. Wir sollten rhetorisch abrüsten. Diese Volksvertreter als „Doof“ oder mit ähnlich abwertenden Synonymen zu bezeichnen, sagt mehr über den Sender als über den Adressaten aus. Es ist gut, dass wir in diesen Zeiten ein Zeichen setzen.

Es wäre gut, wenn wir alle bereit wären, mehr zu fragen „Was können wir für die Demokratie tun?“ Wir sollten aufhören, die Demokratie auszuhöhlen. Dies geschieht, wenn wir die demokratischen Spielregeln verletzen, um uns Gehör zu verschaffen. Wenn wir dies weiterhin tun, gefährden wir unsere Freiheit und öffnen den Extremisten von Rechts und Links die Tore.

Der rechte und der linke Rand unseres Landes haben sich längst getroffen. Sie gleichen sich in ihrer Verachtung für die Politiker, in ihrer Verhöhnung von Mitmenschlichkeit und Empathie für Schwächere, in ihrem Antisemitismus und in ihrer Kritiklosigkeit gegenüber Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Sie gleichen sich in der Wahl ihrer Mittel, sich Gehör zu verschaffen.

Es ist gut, dass viele Menschen in diesen Wochen zeigen, dass sie verstanden haben, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeiten sind. Freiheit und Demokratie sind Geschenke, die die meisten, die in diesem Land leben, ohne eigene Leistung erhalten haben.

„Können wir Demokratie und Freiheit wertschätzen?“ Das ist die Frage, die uns die Extremisten von rechts und links stellen. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns Freiheit und Demokratie verdienen müssen. Indem wir wählen gehen. Indem wir uns Hetze, Gewalt und Hass entgegenstellen. Indem wir auf unsere Sprache achten, dass wir respektvolle Worte wählen, wenn wir über Politik reden.

In geselliger Runde, im Gespräch überm Gartenzaun, im Plausch auf der Straße oder beim Smalltalk in der Bäckerei. Überall, wo wir reden und diskutieren, haben wir die Möglichkeit, Zeichen zu setzen durch unser Reden und unser Handeln. Zeichen für Demokratie, für Freiheit, für Menschlichkeit und für respektvollen Umgang in politischen Debatten.

Lasst es uns tun! Dass wir uns in diesen Tagen engagieren, ist ein Zeichen. Ein Anfang. Der Kampf für Demokratie und Freiheit in unserem Land braucht uns alle. Und dieser Kampf braucht einen langen Atem.

Lassen Sie uns Zeichen setzen und respektvoll im Gespräch bleiben.


Ihr und Euer Pastor Rainer Chinnow
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