Liebe Freunde der Norddörfer Kirchengemeinde!

„Panama Jack“ steht vor meiner Haustür. Hat seinen typischen Hut auf. Das ist das Einzige, was bei ihm sauber ist. Er ist unrasiert und riecht, als hätte er wochenlang weder Wasser noch Seife gesehen. Hoffentlich ist er mit zwei Euro zufrieden und ist gleich wieder weg. Triumphierend hält er mir einen völlig verdreckten 50 Euro Schein entgegen. „Hat mir der Pastor Stefansen im Gottesdienst gegeben“, meint er trocken.

Ich sehe ihn fragend an: „Ja, kannste mir glauben. Er hat was von Respekt erzählt. Und dass wir jeden Menschen mit Gottes Augen ansehen sollen. Sowas eben.“
„Und dann hat er dir einfach diesen Schein in die Hand gedrückt“, sage ich und schüttele lächelnd den Kopf und will mich abwenden. „Panama Jack“ hat mir schon viele spannende und abenteuerliche Geschichten erzählt. Die meisten zu spannend und abenteuerlich, um wahr zu sein.

Doch er lässt sich heute nicht beirren. „50 Euro – wer will die haben?“ hat Pastor Stefansen gerufen? „Und was glaubste: Zweihundert Hände gehen nach oben. Meine Hand natürlich auch. Dann lässt der Pastor den Schein auf den Boden fallen. ,Was macht der denn jetzt?’ Hab’ ich gedacht? Dann springt er wie ein Verrückter auf den Schein, bespuckt ihn, zerknüllt ihn und hält eine unansehnliche Kugel in die Höhe: Wer will den jetzt noch haben? Da waren es nur noch zwei Hände und meine.

Der Pastor Stefansen steigt von der Kanzel herunter, geht an den beiden anderen vorbei und bleibt vor mir stehen. ,Hier Panama Jack! Nimm den 50 Euro Schein. Und wenn du ihn ansiehst, denke daran: ,So wie dieser Schein noch immer seinen Wert hat, so ist es auch mit uns Menschen, wenn wir sie mit Gottes Augen anschauen: Auch wenn du am Boden liegst. Wenn man dich tritt, anspuckt und verhöhnt. Ja, auch wenn die Menschen die Nase rümpfen, weil du seit Wochen das Wasser meidest: Du bleibst Gottes Geschöpf. Ganz gleich was geschieht.

Dann drückt er mir die 50 Euro in die Hand und sagt: Respekt fängt damit an, dass sich keiner über den anderen erhebt, weil er meint, er sei etwas Besseres.’“

„Panama Jack“ sieht mir in die Augen, blickt in meine offene Hand, in der ich die zwei Euro bereit halte, damit ich ihn schnell loswerde. Er hebt stolz seinen Kopf, dreht sich um und geht. Ich sehe ihm nach. Dann schließe ich die Tür. Im Flur sehe ich mein Gesicht im Spiegel. Es ist rot vor Scham, als hätte mich jemand ertappt.

Respekt fängt damit an, dass ich nicht alles bewerte, und in Schubladen verfrachte.

In diesen Zeiten auf der Insel fängt Respekt damit an, dass ich aufhöre, von ,dem Gast’ und ,dem Sylter’ zu reden, als wären es zwei unterschiedliche und unvereinbare Welten. Respekt fängt damit an, dass ich den Aufkleber „Sylter dürfen das!“ von meinem Fahrzeug entferne. Respekt fängt damit an, dass ich mich auf der Insel nicht so benehme, als wäre Sylt mein Eigentum und Corona eine Erfindung von Bill Gates. Und das gilt für jeden.

Respekt bedeutet zu erkennen, dass alle Menschen Gottes Geschöpfe sind, miteinander verbunden – und wer noch Sinne hat, die etwas wahrnehmen können, der erkennt auf der Insel gerade in diesen Tagen und Wochen, wie sehr alles miteinander verbunden ist – die Insel mit dem Festland, das Festland mit Europa, Europa mit der Welt.

Respekt bedeutet, mit dem Verstand zu erkennen und mit dem Herzen zu fühlen, dass das Leben auf unserem kleinen Planeten weit bunter ist als meine kleine Welt auf dieser Insel, auf dem Festland und in diesem reichen Land.

Respekt heißt, dass ich nicht nur mit dem Verstand begreife, sondern fühle, dass jede Kreatur ein Gottesgeschöpf ist – nicht nur ich.

Wenn dies vom Kopf ins Herz gelangt ist, dann kann es geschehen, dass der Respekt sich in die höchste christliche Tugend wandelt: Liebe. Sich selbst verschenken – ohne Berechnung.

Liebe heißt Vertrauen aller Angst zum Trotz. Liebe heißt, im Nächsten zu erkennen: Es begegnet uns ein GottesGeschöpf, von Gott gewollt, mit Würde ausgestattet. Ein Mensch, nicht perfekt, sondern mit Fehlern behaftet. Wenn wir uns aber geliebt wissen, lässt uns dies auch uns selbst mit allen dunklen Seiten und Mängeln ertragen.

Ich bin sicher, diese Erkenntnis hat das Potential, die Welt so zu verändern, dass sie ein besserer Ort wird. Ein Ort, an dem für alle „Panama Jacks“ spürbar ist, dass von Menschen wie mir respektvoll ihre Würde geachtet wird.

Nutzen wir diese besondere Zeit
und jeden Moment in unserem Leben,
um die Welt zu einem besseren Ort zu machen
und jede Begegnung zu einem Geschenk.

Auf ein baldiges Wiedersehen freut sich besonders jetzt Ihr

Pastor Rainer Chinnow

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