Liebe Freunde der Norddörfer Kirchengemeinde!

Heiko, Mahmut und ich besuchen unseren Freund Waldemar in der Klinik. Waldemar ist an Krebs erkrankt. Prostata. Waldemar hatte schon länger Beschwerden, aber er gehört nicht zu den Männern, die gern zum Arzt gehen. Die Ärzte haben Metastasen in den Lymphknoten und in der Leber gefunden. Aber er ist gut drauf und empfängt uns mit einem Lächeln. Waldemar spricht deutsch mit einem stark ostpreußisch-polnischen Akzent. Er ist vor 15 Jahren auf die Insel gekommen. Eigentlich nur für eine Saison. Dann hatte er jedes Jahr im Sommer auf Sylt gearbeitet. Vor acht Jahren hat er eine Frau kennengelernt und ist geblieben.

Waldemar kommt uns im Bademantel entgegen. Er hat abgenommen. Der durchtrainierte Körper wirkt zerbrechlich. Er sieht blaß aus nach einer achtwöchigen Odyssee zwischen Sylt, Flensburg, Hamburg und schließlich wieder Sylt. Heiko und ich begrüßen Waldemar mit einer herzlichen Umarmung, Mahmut legt seine Hand zum Gruß auf sein Herz. „Wie geht es Dir?“ frage ich. „Ich fühle mich gut. Etwas schlapp, aber ich habe keine Schmerzen. Nur die Wunde von der Operation spüre ich ab und zu.“

„Was sagen die Ärzte?“ fragt Heiko. „Die haben mich zurück auf die Insel geschickt, weil sie nichts mehr für mich tun können. Chemo habe ich abgelehnt. Sie haben mir nicht viel Hoffnung gemacht. Nur ein Wunder könne mir noch helfen.“ Waldemar war nie der Mensch, der an Wunder geglaubt hat. „Und, Waldemar, glaubst Du an Wunder?“ Waldemar überlegt einen Moment. „Wenn ich ganz ehrlich bin: nein. Ich kann nicht elektrisches Licht benutzen, moderne medizinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an diese ganze biblische Wunderwelt mit Krankenheilung und über’s Wasser gehen und so glauben. Das passt nicht.“ Mahmut fragt weiter: „Dann hast du keine Hoffnung mehr?“

Waldemar antwortet: „Doch, Hoffnung habe ich immer. Ich lebe. Jeden Tag. Und es geht mir gut. Ihr seid da. Und darüber freue ich mich. Und über das, was kommt, mache ich mir ehrlich gesagt nur wenige Gedanken. Irgendwie geht es immer weiter.“ Heiko mischt sich ein: „Ich glaube an Wunder. Ich weiß nicht, ob Du wieder gesund wirst, aber ich habe Wunder immer wieder erlebt. So Vieles ist schief gelaufen. Und jetzt habe ich wieder Boden unter den Füßen. Ihr habt mich trotz meiner Lügen ertragen. Eine Frau habe ich kennengelernt, die viel zu gut für mich ist. Und eine Arbeit, die mir endlich Freude macht.“

Mahmut meint: „Das hat doch mit Wundern nichts zu tun. Das ist Schicksal. Heiko entgegnet: „Doch. Gerade das hat für mich mit Wundern zu tun. Aber Wunder geschehen vielleicht nur denen, die an Wunder glauben. Ich habe immer an Wunder geglaubt, solange ich mich erinnern kann. Irgendwie war die Welt für mich immer etwas, worüber ich gestaunt habe. Ich glaube, Albert Einstein hat Recht: „Es gibt nur zwei Arten zu leben. Entweder so, als wäre nichts ein Wunder oder so, als wäre alles ein Wunder.“ Mahmut sagt: „Dann gehöre ich zu den Ersteren: Ich plane mein Leben lieber und rechne nicht mit Wundern.“ Waldemar hat zugehört. Ich bin nicht sicher, ob der kleine Disput gerade hilfreich für ihn ist. Aber er schaltet sich ein: „Ich befinde mich dazwischen. Ich glaube nicht an Wunder, aber möchte, dass eins geschieht. Ich will leben, aber mir bleibt nach den Gesetzen der Natur nicht mehr viel Zeit.“ „Also glaubst du doch ein bisschen an Wunder?“ fragt Heiko.

Waldemar schaut ihn an und meint: „Ich habe gerade viel Zeit gehabt, auf mein Leben zurückzublicken. Und ich gebe dir Recht: Ich habe viel geplant und gerechnet und versucht den Zufall aus meinem Leben – wie sagt man es auf deutsch? – zu beseitigen. Aber dass ich aus meinem kleinen Dorf in Polen hier auf der Insel gelandet bin. Dass ich eine Familie habe und ihr heute hier seid: Das habe ich nie geplant. Also wenigstens ein kleines Wunder ist das schon. Und dafür bin ich dankbar.“ Die drei schauen mich an und Mahmut sagt: „Wir haben ja eigentlich einen Wunderexperten unter uns. Was meinst du eigentlich, Rainer? Gibt es Wunder? Darf Waldemar hoffen?“ „Ich lebe nicht jeden Tag so, als würden die Naturgesetze von Gott in wunderhafter Weise außer Kraft gesetzt. Das würde mir auch nicht einleuchten. Warum hat er dann dieser Welt eine Ordnung der Naturgesetze als Schöpfer gegeben? Und doch glaube ich an Wunder.“

„Sag einfach mal ja oder nein und mach‘ es nicht so kompliziert. Ich glaube, Waldemar braucht eine klare Antwort!“ unterbricht mich Heiko. „Waldemar hat seinen Weg zu den Wundern schon gefunden. Für mich wirkt Gott in der Stille. Und dort ereignen sich die meisten Wunder: Uns wird etwas bewusst für unser Leben. Für mich sind Wunder Schlüsselmomente, in denen wir das, was in unserem Leben geschieht, verstehen, einordnen und darin Gottes Zuwendung zu uns erkennen können. Kein Zaubertrick Gottes, mit dem er die Welt aus den Angeln hebt. Kein Feuerwerk. Aber ein Moment, in dem mir Gottes Handeln für mein Leben bewusst wird. Ein Moment, der mich zum Glauben bringt und im Glauben stärkt.“ Waldemar nimmt meine Hand und hält sie fest. Mahmut und Heiko schweigen. „Ich wünsche mir einfach noch einige solcher bedeutsamen Momente, Rainer! Momente der Erleuchtung.“

Eine „Wunder volle“ Weihnachtszeit wünscht Ihnen allen

Ihr

Pastor Rainer Chinnow

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