Liebe Freunde der Kirchengemeinde Norddörfer!

WAS BRAUCHT DIE INSELGEMEINSCHAFT?

Mit Birgit und Heiko war ich gestern in Westerland. Birgit ist auf Sylt geboren. Heiko ist mein Schulfreund vom Festland. Er besucht mich alle paar Wochen. Mittlerweile ist er eine Art „kritischer Syltliebhaber“ geworden.

„Da saßen sie wochenlang mit ihren bunten Haaren und den zerfledderten T-Shirts!“ Birgit zeigt auf die braunen Flecken gegenüber vom Rathaus, über die nun wieder Gras wachsen soll.
„Haben die Dich gestört?“ fragt Heiko. „Genervt haben sie mich! Reden von Solidarität mit den Armen und hatten selbst alle Stacheldraht in ihren Taschen!“
„Die Punks?“ fragt Heiko. „Wie kommst Du denn darauf?“ Birgit erwidert: „Zahlten nicht fürs Übernachten. Nahmen gern von anderen Leuten Geld. Ließen sich von Staat und Gemeinde aushalten und gaben selbst nichts ab. Sie behielten alles für sich. Vor den Zelten parkten monatelang Einkaufswagen vollgepackt mit Bierkisten!“ Heiko schüttelt den Kopf: „Birgit, du steckst voller Vorurteile! Da waren auch junge Menschen dabei, die für ihre politische Überzeugung eintraten!“ Birgit nickt grinsend: „Ja, eine Forderung fand ich gut: ,Möwensichere Mülleimer für Sylt!‘ Ansonsten waren die meisten schon zu besoffen oder bekifft, um überhaupt eine politische Überzeugung formulieren zu können!“ Inzwischen sind wir in der Friedrichstraße angekommen. Heiko bleibt stehen und sagt: „Was sagst Du denn, Rainer?“ Ich überlege: „Man kann auf die Frage nur richtig falsch antworten. Egal was Du sagst, jeder und jede pickt sich ein Wort heraus, um jemand anders in die Ecke zu stellen. Debatten, Leserbriefe und Diskussionen um die Camps haben für mich ein eigentliches Thema: Wie wollen wir hier zusammenleben? Was fördert den Zusammenhalt? Und was treibt uns auseinander und gegeneinander?“

Birgit nickt: „Ja, das Auseinandertreiben hat wirklich Konjunktur. Und die Wildcamper in Westerland haben als Katalysator gewirkt. Wenn ich ehrlich bin: Die meisten haben mir nichts getan, waren trotz Bierflasche in der Hand, meist nett und höflich. Oft viel freundlicher als alle anderen Passanten. Wahrscheinlich sind die meisten völlig okay. Ich ärgere mich einfach, dass sie vor aller Augen tun dürfen, was allen Sylter Jugendlichen und Erwachsenen verboten ist. Wir hätten auch gern mal am Strand oder wie früher am Ellenbogen übernachtet.“

„Heiko meint: „Waren ja auch nicht die einzigen, die für Unmut gesorgt hatten.“ Birgit fragt: „Du meinst den Lindner und seine Franca?“ Heiko nickt und Birgit fährt fort: „Ja, ein vorbildliches Promipaar sieht anders aus.“ Heiko fragt: „Wie meinst Du das denn?“ Birgit antwortet: „Herr Lindner und Frau Lehfeldt zahlten nicht für die Gemeinschaft der Kirche, aber nahmen gern deren Leistungen in Anspruch. Es war kein guter Sommer für die Sylter Gemeinschaft: Überdimensionale Bauprojekte auf der einen Seite und für die, die das Inselleben am Laufen halten, gibt es noch immer zu wenige Wohnungen.
Sylt wurde und wird ausgeschlachtet von viel zu vielen Interessengruppen, denen die Insel nichts bedeutet und die das Leben der Einheimischen nicht interessiert. Leute, die in ihrer Blase ungestört nur möglichst viel Spaß haben wollen und mit die Kulisse Sylt wie eine Zitrone auspressen, bis nichts mehr übrig bleibt. Dann ziehen sie weiter zur nächsten Luxusdestination.“

Heiko überlegt und sagt dann: „Das ist Dein Gefühl?“
„Ja,“, sagt Birgit, „wenn über Sylt berichtet wurde, dann wurde mal wieder ein Klischee ans nächste gereiht. Mit meiner Insel hatte es nichts zu tun. Es macht mich immer noch wütend und traurig.“ Heiko nickt. „Verstehe ich!“ Inzwischen haben wir die fast menschenleere Friedrichstraße hinter uns gelassen und haben die Promenade erreicht.

„Siehst Du irgendwo Hoffnung?“ Birgit schüttelt den Kopf.
„Und Du, Rainer, Du bist doch Experte für Gemeinschaft. Du sagst doch immer am Ende des Gottesdienstes: ,Unsere Gemeinde bildet sich jeden Tag neu. Alle, die zu uns kommen und die da sind, gehören dazu!‘“ Ich antworte: „Ja, das ist mein Bild einer lebendigen Gemeinschaft. Es gilt für die Kirche. Es gilt für unser Dorf. Und es ist meine Vision für diese Insel!“
Birgit unterbricht mich: „Wie soll das denn für Sylt funktionieren?“ „Ich gebe zu“, sage ich, „es ist schwierig. Dieser Sommer hat uns nicht enger zusammengebracht, sondern weiter auseinanderdriften lassen. Aber ich habe eine Vision von einer Gemeinschaft auf dieser Insel.

FRAGE NICHT, WAS DIE
GEMEINSCHAFT FÜR DICH
TUN KANN, SONDERN WAS
DU FÜR DIE GEMEIN-
SCHAFT TUN KANNST.
J.F. KENNEDY

Eine Gemeinschaft, in der die Starken die Schwachen tragen – und deshalb keiner durch das soziale Netz fällt. Die Vision einer Gemeinschaft, in der die Menschen auf ihre Worte achten: Sie lästern nicht über die, die ihnen fremd sind. Sie halten Klischees nicht für die Wahrheit – und sie versuchen auch nicht, jedes Klischee zu erfüllen. Ich habe die Vision einer Insel-Gemeinschaft, in der nicht zählt, wer wie lange auf der Insel lebt oder zu Gast ist, sondern wer diese Insel und das Leben hier mit den Menschen liebt. Eine Gemeinschaft, in der die Menschen gerne ihre Zeit schenken, um diese Insel zu erhalten, menschlicher zu gestalten und lebenswerter für alle zu machen. Ich habe die Vision einer Gemeinschaft, in der alle ihre Talente und Gaben, ihre Kreativität und Fantasie einsetzen. Ich habe die Vision einer Gemeinschaft, in der Ehrlichkeit und Vertrauen untereinander so einen festen Grund haben, dass wir auf Sylt Fehler zugeben können – ohne Angst, dafür aus der Gemeinschaft herauszufallen. Ich habe die Vision einer Gemeinschaft auf Sylt, in der wir leben, so wie wir es uns wünschen, frei, mit der Natur im Einklang, mit lebendigen und fröhlichen Festen, umgeben von Menschen, die uns wohlgesonnen sind. Ich habe die Vision einer Gemeinschaft, in der die Menschen auf der Insel, die hier leben, sich wohl fühlen – und in die alle, die zu uns kommen, gern aufgenommen werden.“
Birgit nickt und sagt: „Ein bisschen viel Pathos, aber schön gesagt. So eine Insel-Gemeinschaft kann ich gerade nicht sehen.“ Und Heiko stimmt ihr zu und meint: „Klingt irgendwie nach einer umformulierten Version von J.F. Kennedys Spruch: ‚Frage nicht, was die Gemeinschaft für Dich tun kann, sondern was Du für die Gemeinschaft tun kannst.‘“

Hast Du denn irgendwelche Anzeichen davon gesehen?“ Ich antworte: „Jeden Tag sah ich ein paar davon. Ich finde es gut, dass in Wenningstedt-Braderup ein Verein gegründet wurde aus Einheimischen, Gästen und Zweitwohnungsbesitzern, um gemeinsam das Leben im Ort zu verbessern.

Es war ein wirklich tolles Dorfteichfest für unsere Gemeinde: Mehr als 50 Ehrenamtliche und Hauptamtliche für 14 Stunden haben gegrillt, gezapft, mit den Kindern gespielt, Bücher, Kuchen und Kaffee verkauft. Vor allem aber haben wir geredet und gelacht – und haben uns gern für diese Sache engagiert. Das war das Wichtigste: Mit Herz und Spaß dabei zu sein für eine gute Sache auf der Insel!“

Wir schauen auf den Horizont, die Sonne steht hoch am Himmel und wärmt.
Birgit fragt: „Meinst Du, dass es eine solche Gemeinschaft wirklich geben kann?“
Ich antworte mit einer Gegenfrage: „Siehst du den Horizont?“ Birgit nickt.
Ich fahre fort: „Ich glaube, dass Gott ihn uns geschenkt hat, damit wir lernen, groß zu denken und unser Herz zu weiten. Denn es ist der gleiche Gott, der uns dazu berufen hat, miteinander zu leben. Wenn wir jetzt nicht damit anfangen, diese Gemeinschaft zu bauen, werden wir nie wissen, ob es gelingen kann!“

Lasst uns die stille Zeit des Winters nutzen, um Gemeinschaft zu erleben und vielleicht ganz neu zu denken! Ich freu mich drauf!


Ihr und Euer Pastor Rainer Chinnow

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