Liebe Freunde der Norddörfer Kirchengemeinde!

Wie geht „New Normal“?

Friedrich und seine Tochter Frida sind zu Besuch. Friedrich ist Deutsch- und Geschichtslehrer. Seine Tochter Frida hat nach ihrem BWL Studium einen Job als Softwareentwicklerin bei einem grünen Startup. Es ist ein wolkenverhangener, windiger Tag. Wir wandern am Watt entlang von Hörnum nach Rantum. Ein wunderschöner Weg. Menschenleer auch in diesen Sommerwochen, in denen die Insel ausgebucht ist. Friedrich hat ein paar Kilo zugelegt. Friedrich hat gelitten unter dem Distanzunterricht und den Coronaleugner-Kollegen, die sich Atteste erschlichen haben, um nicht arbeiten zu müssen. „Rainer, diese Pandemie demaskiert auch den Menschen. Du blickst dann in sein wahres Gesicht – und das ist nicht immer erfreulich!“ Er hat seinen Beruf immer als Berufung verstanden, um Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürgern zu erziehen. Um mit Kolleginnen und Kollegen gemeinsam die Welt ein wenig besser zu machen. Das Jahr der Pandemie hat an seiner Berufung gefressen.

Frida hat Yoga für sich entdeckt und sieht blendend aus. Ihr Berufseinstieg fand bedingt durch Covid-19 im Homeoffice statt. Die ersten drei Kollegen hat sie in Präsenz nach einem halben Jahr kennengelernt. Frida hat nichts gefehlt. Im Gegenteil. Sie arbeitet gern und effektiv dort wo sie gerade lebt.

„Am liebsten wäre mir, wenn bei uns Homeoffice auch nach der Pandemie die Regel ist!“ sagt sie.

Wer den Alltag meistert, ist ein Held.
Fjodor Dostojewski

„Wird Distanz am Arbeitsplatz das neue New Normal?“
Ihr Vater runzelt die Stirn.
„Ja, das wäre super! Dann könnte ich nach Venedig ziehen und dennoch in Deutschland arbeiten. Ein Traum“ antwortet sie.
„Wie wird das New Normal aussehen?“ frage ich.

Frida strahlt. „Das New Normal hat für mich schon längst begonnen. Ich habe gelernt, bewusster mit meiner Zeit umzugehen. Ich genieße jede Stunde am Tag, bin vor und nach der Arbeit in der Natur, skype mit meinen Nichten und Neffen. Im letzten Jahr habe ich das Kochen gelernt und mich viel mit gesunder Ernährung beschäftigt. Und ich habe den Heimsport für mich entdeckt. Es gibt so tolle Videos vom Workout bis zum Yoga. Das neue New Normal wird Achtsamkeit sein – für mich, für meinen Körper, meine Seele, für die Natur. Die Pandemie hat uns gelehrt, wie zerbrechlich diese Welt ist. Die Pandemie hat uns gelehrt, wie viel unentdeckte Talente und Möglichkeiten in uns stecken und wie wir sie nutzen können. Ich bin optimistisch. Ich freue mich auf dieses New Normal nach Corona“.

Friedrich schüttelt den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass sich nach Corona etwas ändert. Was wussten wir vor der Pandemie über die Spanische Grippe. Fast nichts. Weil sich trotz Millionen von Toten danach das gesellschaftliche Leben nicht verändert hatte. Genauso war es nach den großen Pestseuchen im Mittelalter, in denen mehr als ein Drittel der Menschen ihr Leben verloren hatten. Es gab zeitgleich extreme und verwirrte politische Haltungen wie jetzt auch. Offenbar liegt es auch in der Natur von den sogenannten ‚Querdenkern‘, dass sie immer einen Schuldigen brauchen. Es gibt aber keine Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft sich danach positiv weiterentwickelt hätte. Die großen Pandemien, von denen wir wissen, haben weder zu Besinnung und Innehalten noch zu einem besseren Verhalten der Menschen untereinander geführt. Der Mensch geht den Weg der Bequemlichkeit. Er wird sich nach der Pandemie zurücklehnen und dort anknüpfen, wo er vor anderthalb Jahren aufgehört hat. In zehn Jahren wird er sich an Corona kaum noch erinnern.“

Frida bleibt stehen und schaut ihren Vater an: „Du bist und bleibst ein unverbesserlicher Pessimist! Rainer, was denkst du?“
Wir gehen weiter. Inzwischen hat es angefangen, leicht zu nieseln.
„Also ich denke, dass Friedrich Recht hat. Und Dir, Frida, kann ich auch nur zustimmen.“
Beide schauen mich an und erwidern in seltener Einigkeit: „Rainer, das geht nicht. Du kannst nicht uns beiden Recht geben. Entweder gibt es ein New Normal oder es bleibt beim Old Normal!“
„Ja, das stimmt auch wiederum“ antworte ich.

„Natürlich hoffe ich, dass Friedrichs negative Prognose nicht eintritt. Bislang aber haben wir Menschen wenig aus der Geschichte vergangener Krankheiten gelernt. Dieses Mal wäre es sehr wünschenswert, dass es anders kommt.

New Normal, das klingt hoffnungsvoll, nach einer Zukunft, die ganz selbstverständlich besser wird. Es klingt nach selbstverständlicher Veränderung, die mit Überzeugung und Leichtigkeit angenommen wird. Das wäre super.
Für mein Leben hat sich im letzten Jahr einiges verändert.
Wenn es wahr ist, dass sich die Natur in der Pandemie vom Menschen erholt hat, dann sollte auch dies uns zum Nachdenken und zu einem neuen Handeln bringen. Wenn viele Menschen gelitten haben und verkümmert sind an Leib und Seele, weil ihnen Nähe und Umarmung fehlten, dann sollten wir gerade an dieser Stelle an ein Old Normal anknüpfen.

Wenn Freiheit fehlte, weil Entscheidungen erzwungen wurden und anstelle von demokratischer Kontrolle behördliche Willkür und narzisstische Selbstüberschätzung einiger Politiker trat, dann sollte das New Normal bedeuten: engagiert Euch politisch dort, wo Ihr lebt. Nicht auf dumme und verantwortungslose Weise, nicht mit Aluhüten bewaffnet. Lasst Euch vielmehr von Vernunft und Geist leiten, nutzt die Waffen der Wissenschaft und des Intellekts, verbündet Euch mit Politikern, die das Gemeinwohl im Sinn haben.

Ja, es wird immer die Egozentriker und Soziopathen geben, die nur nach eigenen Gesetzen leben wollen auf Kosten anderer. Die jede absurde Verschwörungstheorie glauben und verbreiten solange sie ihrem eigenen Lebensstil und ihrem Vorteil dient. Es gab sie vor der Pandemie – und sie werden nach der Pandemie ihr Unwesen treiben. Unbeeindruckt von Krankheit und Tod und unverändert starrsinnig.

Für alle anderen sehe ich Hoffnung, denn ‚Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit!‘
Und was seht Ihr?“
Frida und Friedrich schauen in den Himmel. „Wolken!“ sagt Friedrich.
„Dahinten wird es heller!“ erwidert Frida.
„Das sagen die Sylter immer!“ antwortet Friedrich.
„Und meistens stimmt es auch“ bestätige ich.

Einen Sommer voller Licht wünscht Euch und Ihnen,

Ihr

Pastor Rainer Chinnow

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